Impulse aus Halle für eine Kirche im Aufbruch
Was hat eine evangelische Konferenz in Halle mit unseren katholischen Fragen zu tun? Eine ganze Menge. In der jüngsten Ausgabe von Ecclesial Futures werden Impulse versammelt, die auch uns herausfordern – und bestärken. Ein persönlicher Blick auf Empowerment, Säkularität und kirchliche Transformation aus Sicht der katholischen Pionierarbeit – und aus der Perspektive einer Kirche, die sich fragt: Was wächst eigentlich noch in der Wüste?
Ich habe in den letzten Jahren oft erlebt, wie der Boden unter unseren kirchlichen Füßen brüchig geworden ist. Mitgliedszahlen brechen ein, Ressourcen schwinden, Vertrauen ist erschüttert – eine Wüste, wie sie in der Bibel oft beschrieben wird: rau, entbehrungsreich, ungeordnet. Und dennoch: genau in der Wüste geschehen die großen Gottesgeschichten. Genau dort, wo nichts mehr sicher scheint, beginnt Neues.
Diese Spannung bestimmt meinen Alltag als „Kirchenentwickler“ im Bistum Speyer. Wir versuchen, Räume zu schaffen, in denen Kirche nicht mehr wie früher einfach „da ist“, sondern sich neu ereignet. Wir nennen diese Räume Segensorte – Orte, an denen mitten im Alltag Gottes Gegenwart erfahrbar wird. Auch, oder gerade, dort, wo vorher Wüste war.
Empowerment als geistliches Prinzip
Der zentrale Begriff dieses Bandes ist Empowerment – also Ermächtigung, Befähigung, Bevollmächtigung. Gemeint ist keine kirchliche Strategie, sondern ein geistlicher Haltungswechsel:
➡ Wie werden Menschen befähigt, ihren Glauben selbst zu gestalten?
➡ Wie werden sie ermutigt, sich als Gesandte zu verstehen – nicht nur als Adressaten kirchlicher Angebote?
Das trifft direkt ins Herz unseres Segensorte-Narrativs. Denn wenn wir davon sprechen, dass Kirche dort lebendig wird, wo Menschen aus dem Glauben heraus ihr Umfeld gestalten, dann sprechen wir genau davon: Empowerment im Geist Gottes – mitten in der Wüste des Rückgangs.
Im Bericht zur ICEF-Konferenz wird Empowerment nicht als bloßes Managementtool beschrieben, sondern als geistlich-gesellschaftliches Geschehen: Menschen werden befähigt, ihr Leben selbstverantwortlich und hoffnungsvoll zu gestalten – weil sie sich gesegnet wissen und im Vertrauen auf Gottes Gegenwart handeln. Genau das erleben wir auch bei vielen unserer Segensorte: Da, wo Menschen anfangen, Kirche in ihrer Sprache und an ihrem Ort zu leben – sei es mit Kindern auf dem Spielplatz, in einer leerstehenden Dorfscheune oder im digitalen Raum – blüht etwas auf inmitten der Dürre.
Wüstenzeiten brauchen Möglichkeitsräume
Ein Kapitel hat mich besonders an unsere Pionierstellen erinnert: Es geht um die sogenannten Erprobungsräume der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Dort wird bewusst Raum gegeben für neue Formen von Kirche: im Sozialraum, digital, spirituell – kleine Oasen inmitten struktureller Trockenheit.
Das erinnert mich an unsere Segensorte, an FreshX-Ansätze, an Menschen, die heute wagen, Kirche zu sein zwischen Café, Spielplatz, Instagram und offenen Kirchenfenstern.
Was mir gefällt: Die evangelische Kirche nimmt sich Zeit für Evaluation, für gemeinsames Lernen. Das ist nicht immer bequem – aber unverzichtbar, wenn wir wirklich Neues in der Wüste wachsen lassen wollen.
Oder, wie es einer der Autoren formuliert:
„Churches need to adopt an eschatological mindset … and strive to embody God’s preferred future.”
ICEF Conference Report, S. 8
Die Kirchen, so heißt es, brauchen eine „eschatologische Haltung“ – also eine Haltung, die sich vom Zukunftsvertrauen her speist. Statt zurückzublicken auf Zeiten, in denen alles vermeintlich geordneter war, sollen wir uns fragen: Was ist Gottes gewünschte Zukunft – und wie können wir schon jetzt ein Stück davon leben?
Wüstenzeit ist auch Erwartungszeit. Und genau da wird Empowerment zu einem geistlichen Lebensnerv: Wir handeln nicht, weil wir Erfolg garantieren können, sondern weil wir glauben, dass Gott schon wirkt.
Regio-lokal statt Strukturstress
Ein weiterer Gedanke: Die Kritik an endlosen Strukturreformen ohne inhaltliche Vision ist auch bei den Kolleg:innen in der EKD deutlich spürbar. Was dort als „regio-lokale Kirchenentwicklung“ beschrieben wird, ist auch unser Thema:
➡ Wie verbinden wir strategische Steuerung mit lokaler Präsenz?
➡ Wie vermeiden wir, dass Orte der Begegnung zu weißen Flecken werden – nur weil der Plan größer gedacht wurde als das Leben vor Ort?
Das ist genau der Punkt, an dem sich unsere Sendungsformel, unsere Segensorte und unsere Pionierstellen verorten: Kirche nicht von oben denken – sondern von den Menschen her. Vom Ort. Vom Aufbruch. Vom Mut zum Kleinen.
Im Bistum Speyer gehen wir mit dem Leitbild „Ein Segen sollt ihr sein“ einen ähnlichen Weg: Wir wollen nicht einfach Strukturen reformieren – sondern Kirche konsequent von ihrer Sendung her gestalten, auch wenn wir uns dabei durch Wüstenräume bewegen. Die Vision benennt deutlich, dass jede und jeder gesendet ist, um Segen zu sein – für andere, für den Ort, für die Welt. Noch ist diese Haltung nicht überall selbstverständlich – aber sie weist den Weg: Strukturen nicht um ihrer selbst willen zu verändern, sondern vom Leben der Menschen her zu denken, wie es unsere Bistums Vision „Segensorte gestalten“ nahelegt.
Gott ist schon da – auch in der Wüste
Was mich wirklich bewegt hat, ist ein wiederkehrender Gedanke im ganzen Band:
„Where is God already at work here?”
ICEF Conference Report, S. 7
Nicht: „Was können wir noch retten?“
Nicht: „Wie reparieren wir die Kirche?“
Sondern: „Wo webt der Geist Gottes schon – und wie können wir dazukommen?“
Das ist eine Frage, die wir uns viel öfter stellen sollten – vor allem dort, wo alles nach Rückzug aussieht.
Da erzählt ein Pfarrer von einem Kinderchor in Ostdeutschland, den ein Atheist leitet – und plötzlich wollen Kinder getauft werden. Eine andere Gemeinde steht mit einem Bauwagen mitten in einem Plattenbaugebiet und wird zum Ankerpunkt für Menschen, die nie einen Kirchenturm betreten würden.
Ich lese das – und denke an unsere Segensorte. An Kirche Kunterbunt. An den Kirchenbus, den wir durch Dörfer schicken wollen. An digitale Räume, die keine Ersatzwelt sind, sondern geistliche Wege mitten im Alltag.
Auch unsere Wüstenlandschaften haben Quellen.
„There is abundance in places of scarcity.”
ICEF Conference Report, S. 9
„Es gibt Fülle an Orten der Knappheit.“ Oder anders gesagt: Gerade da, wo Mangel herrscht, kann Gottes Fülle aufleuchten.
Diese Aussage trifft ins Zentrum einer geistlichen Wahrheit, die uns immer wieder überrascht: Kirche wächst nicht zuerst dort, wo alles perfekt ausgestattet ist – sondern dort, wo Menschen sich mit offenen Händen aufmachen, im Vertrauen, dass Gott das Fehlende ergänzt. Wüste ist nicht das Ende – sie ist manchmal der Ort, wo das Evangelium ganz neu aufblüht.


Schreibe einen Kommentar